Europäisches Institut für Stillen und Laktation

Meta-Analyse: Kolostrum als Therapie für Frühgeborene?

Anlage zum EISL-Newsletter Juli 2022

Colostrum Use and the Immune System of Premature Newborns: A Systematic Review and Meta-Analysis
Colonetti T, de Carvalho Florêncio I, Figueiredo P, Colonetti L, Rodrigues Uggioni ML, da Rosa MI, Ceretta LB, Roever L, Grande AJ. J Hum Lact. 2022 Apr 13:8903344221087967. DOI: https://doi.org/10.1177%2F08903344221087967

Das wichtigste in Kürze:

  • Muttermilch, besonders Kolostrum, enthält eine Vielzahl von Immunstoffen, die das noch unreife Immunsystem von Neugeborenen und Frühgeborenen unterstützen.
  • Frühgeborene werden häufig zu Beginn ausschließlich per Sonde ernährt, wodurch der direkte Kontakt zwischen den Mund- und Nasenschleimhäuten des Babys und der Muttermilch fehlt. "Kolostrum-Therapie" ist als Idee seit einiger Zeit populär: frisches Kolostrum wird mit einem Wattestäbchen o.ä. auf die Mund- und Nasenschleimhäute des Frühgeborenen aufgetragen.
  • Eine aktuelle Meta-Analyse untersuchte den Effekt dieser Therapie: die Studienlage ist bisher noch dünn, erste Ergebnisse zeigen aber, dass der IgA-Spiegel im Speichel, sowie der Laktoferrin-Spiegel im Urin von Frühgeborenen ansteigt, die mit der Kolostrum-Therapie behandelt wurden.

Eine Frühgeburt bezeichnet die Entbindung vor 37+0SSW. Je nachdem wann das Baby geborenen wurde, kann man zwischen extremen Frühgeborenen (vor 28+0SSW), sowie sehr Frühgeborenen (28-32+0SSW) und moderat Frühgeborenen unterscheiden (32-37+0SSW) (WHO 2018). Das Immunsystem ist zunächst noch unreif bei allen Neugeborenen, bei Frühgeborenen ist diese Unreife jedoch besonders ausgeprägt. Die Frühgeburtlichkeit ist einer der häufigsten Gründe für das Versterben als Neugeborenes (70% aller neonatalen Todesfälle), 36% aller Todesfälle in der Kindheit, und für neurologische Spätschäden in 25% der Fälle (Di Renzo 2017).

Muttermilch bietet neben der Ernährung auch eine Quelle der Stärkung für das angeborene Immunsystem und die passive Immunisierung, bis das Immunsystem des Säuglings reif genug ist, selbst zu agieren. Unter anderem enthält Kolostrum sekretorisches IgA, Laktoferrin, Zytokine und Wachstumsfaktoren (Martín-Álvarez et al., 2016). Durch die Frühgeburtlichkeit ist häufig die Saugfähigkeit eingeschränkt und Muttermilch muss vollständig oder ergänzend über eine Sonde zugeführt werden, wodurch jedoch der unmittelbare Kontakt zwischen Mund- und Nasenschleimhäuten des Kindes und der Muttermilch fehlt oder nur selten stattfindet.

Um dem entgegenzuwirken ist seit einiger Zeit die Idee der "Kolostrum-Therapie" populär: Unverarbeitetes, frisches Kolostrum der Mutter wird mittels eines Wattestäbchens o.ä. auf die Mund- und Nasenschleimhäute des Babys aufgetragen. Diese Methode ist schmerzlos und sicher, dabei wird das Immunsystem stimuliert (Martins et al., 2020).

Die aktuelle Meta-Analyse befasste sich mit Studien rund um das Thema Kolostrum-Therapie bei Frühgeborenen. Leider sind derzeit noch wenig Evidenzen verfügbar, zudem sind diese häufig von schlechter Qualität. Es besteht also Bedarf an hochwertigen und groß angelegten Studien in diesem Themenfeld.

Was die aktuelle Meta-Analyse zeigen konnte:

IgA Werte im Speichel

Insgesamt ergab die Metaanalyse (4 Studien, 241 TeilnehmerInnen) eine signifikante Steigerung der IgA Werte im Speichel durch die Kolostrum Therapie (SMD 0.71; große Effektstärke, SMD=standard mean difference / Effektgröße für Mittelwertunterschiede zwischen zwei Gruppen p = .002). Das IgA wurde 1 Woche nach der Intervention gemessen.

IgA Werte im Urin

Zu diesem Thema konnten drei Studien (225 TeilnehmerInnen) analysiert werden. In der Analyse zeigte sich kein Unterschied in der Konzentration von IgA im Urin im Vergleich zu Placebo (SMD 0.20; geringe Effektstärke; p = .51).

Klinische Sepsis
(=lebensbedrohliche Erkrankung bei der die Reaktion des Immunsystems auf einen Erreger zu Gewebeschäden und Organschäden führen kann)

Im Bezug auf die Sepsis zeigte sich in dieser Untersuchung (4 Studien, 427 TeilnehmerInnen) kein Unterschied zwischen Kolostrum-Therapie und Placebo (RR 0.98; RR=relatives Risiko, RR 0.98 keine Risikoreduktion durch die Intervention; p = .90).

Laktoferrin Werte im Urin
Zwei Studien mit 112 TeilnehmerInnen konnten einen signifikanten Unterschied der Laktoferrin Werte im Urin (SMD 0.70; große Effektstärke; p = .04) feststellen.

Zusammenfassung
In dieser Arbeit wurde die Anwendung von mütterlichem Kolostrum bei frühgeborenen Neugeborenen untersucht. Es zeigte sich eine Steigerung der IgA Werte im Speichel sowie der Laktoferrin Werte im Urin der Frühgeborenen eine Woche nach Intervention. Größere Studien, v.a. auch unter Einbeziehung der langfristigen Wirkung, wären wünschenswert.

© Juli 2022, Dr. med. Josefine Theresia Königbauer, Fachärztin für Frauenheilkunde und IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team: Anja Bier, IBCLC; Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC; Gudrun von der Ohe, IBCLC

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